Antje Schiffers/Thomas Sprenger – Wandern

ANGST IN FORM, 2010 – „Angst vor dem Fremdsein, vor Peinlichkeit oder davor, jemanden um Hilfe zu fragen; Angst vor dem Alleinsein im Wald, Angst, sich zu verlaufen oder vor einer Nacht ohne Schutz“.

Es war einmal vor langer Zeit, da gab es in der Mitte Europas eine Gegend, die sich Sachsen-Anhalt nannte und die  voller Leben, Industrie und Kultur war. Man konnte die Menschen bis in die Ferne zum Rhythmus der wohlvertrauten Fabrikgeräusche singen und tanzen hören. Als aber das 20. Jahrhundert vorbei war und das 21. anbrach, begann sich das Leben für die Bewohner dieses Landstrichs zu verändern, und mit dem Verschwinden ihrer Industrie verschwand auch ihr Tanzen und Singen nach und nach. Gewalt, Kämpfe und Territorialkonflikte erschütterten die Menschen und erfüllten sie mit Hass und Angst, und aufgrund der dramatischen Klimaveränderungen waren unsere Vorfahren in Nord- und Mitteleuropa schließlich gezwungen, nach Süden Richtung Afrika und nach Osten Richtung Asien auszuwandern.

Von der Geschichte dieser Gegend ist wenig überliefert, aber das wenige, was wir wissen, hat inzwischen etwas Legendenhaftes – es sind die Geschichten dreier furchtloser Abenteurer aus dem 21. Jahrhundert, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben und so bis heute überliefert worden sind. Unsere unfreiwilligen Helden sind keine typischen Forschungsreisenden wie Polo oder Scott. Stattdessen verdanken wir unser Wissen über diese Zeit einer Schauspielerin, einem Wirtschaftsberater und einem Sozialarbeiter (typische Berufe jener Zeit).

Wer diese Geschichten heute, mehr als 400 Jahre nachdem unsere Entdecker sich auf den Weg machten, liest, sollte sich der Gefahren bewusst sein, die lauern, wenn man versucht, historische Fakten mittels Folklore zu ergründen. Alles, was dem zeitgenössischen Historiker bleibt, sind Textfragmente und Karten und die mündlichen Berichte, die über Generationen hinweg überliefert worden sind. Die Geschichten, die wir heute über jene Abenteurer erzählen, würden für die, die damals auf diesen gefährlichen Routen reisten, vielleicht gar nicht mehr wiederzuerkennen sein.

Der Zweck meines Schreibens ist es, den Leser darüber zu informieren, wie wenig Belege es für jene Sagen gibt, die noch immer unser Bewusstsein beeinflussen, die Kinder in ihren Spielen nachstellen und die bis heute Künstler, Schriftsteller und Musiker inspirieren. Obwohl jedes dieser Zeugnisse dem Puzzle ein neues Stück hinzufügt, können wir uns des Gesamtbildes dieser lange verlorenen Gesellschaft, das wir geschaffen haben, nie ganz sicher sein. Was jedoch hervorzutreten scheint, ist ein erschreckendes Bild; ein Bild, das aus den Geschichten, die wir uns bis heute erzählen, zu Tage tritt.

Wir wissen, dass unsere Helden bestimmten Wegen gefolgt sind, die andere für sie vorgezeichnet hatten. Und dass diese Wege absichtlich so angelegt waren, dass sie jenen Personen, die ihnen zu folgen bestimmt waren, Furcht einflößen sollten. Wir wissen, dass sie diese Strecken allein zurücklegten, dass ihre Reise zwei bis drei Tage dauerte und dass sie nicht aus den Gegenden kamen, durch die sie laufen sollten. Wir kennen sogar ein paar der Namen der Erfinder dieser Routen und der Menschen, die ihnen folgten: Ein Lokalhistoriker namens Petr Mikšíček zum Beispiel erdachte die Route entlang der deutsch-tschechischen Grenze, die der Personalberater und Coach Christian Jacobs im August 2010 durchleiden musste. Wir wissen, dass eine Gruppe von Aktivisten, die gegen Rassismus und für eine demokratische Gesellschaft arbeitete und sich „Miteinander e.V.“ nannte, eine Wanderroute im südlichen Sachsen-Anhalt erdachte, die gegen Ende Juli 2010 dem aus Wolfsburg stammenden Sozialarbeiter Harry Guta zum unvergesslichen Erlebnis wurde. Die Erfinder des dritten Abenteuers, das die Schauspielerin Julia Neuhaus um dieselbe Zeit herum erlebte, sind bis heute unbekannt, aber auch Julias Geschichte ist uns lebhaft in Erinnerung geblieben.

Aus den wenigen erhaltenen Dokumenten (aus dem Besitz des Museums für Westliche Kultur in Peking) wissen wir sogar etwas über die Beweggründe der Reisenden, sich freiwillig in derart furchterregende Abenteuer zu stürzen. Vielleicht war das zu jener Zeit auch ein beliebter Zeitvertreib. Wir wissen, dass das Leben damals von Verzweiflung geprägt war und dass so eine Einladung, Angst zu erleben, absurderweise etwas gewesen sein mag, wofür die Leute Schlange standen und sogar bezahlten!

Manche Theorien gehen davon aus, dass diese Angst-Spaziergänge von zwei zentralen Figuren namens Antje Schiffers und Thomas Sprenger organisiert wurden und dass es ihre Schriften sind, die wir in den verbleibenden Fragmenten, die von alten Festplatten gerettet werden konnten, lesen, aber wir werden es wohl nie mit Sicherheit wissen. Wenn die Überlieferungen stimmen, scheint es aber, dass diese Organisatoren und Übersetzer die Helden bei der Rückkehr von ihren furchterregenden Abenteuern willkommen geheißen und sich ihre Geschichten aus erster Hand angehört haben müssen, denn anders lässt sich nicht erklären, wie lebendig und detailliert ihre Beschreibungen dieser drei so unterschiedlichen Begegnungen mit der Angst sind.

Unser Bild vom Leben in jener Gegend während des frühen 21. Jahrhunderts stammt aus den Überlieferungen der Abenteuer dieser ungleichen Reisenden. Sie gestatten uns seltene Einblicke in das, was in den Gemütern dieser Generation vorging und ihnen eine solche Furcht einflößte. Sie erzählen uns nicht nur, wovor die Individuen Angst hatten, sondern auch, wovor die Gesellschaft sich fürchtete – und das ist etwas, das uns viel über eine Zivilisation erzählt und uns vielleicht sogar verstehen helfen kann, wer wir heute sind.

(Text: Sophie Hope)