ÜBERTRÄGER - Chris Meighan

Grünanlage am Europaplatz 1, 45657 Recklinghausen

Der Überträger überträgt – für einen gewissen Zeitraum – eine ortsspezifische Geschichte auf grundsätzlich öffentliche, aber für den Einzelnen exklusive Art und Weise. Eine Übertragungsstation – ein teleskopartig ausfahrbarer Turm, der an verschiedenen aufeinanderfolgenden bekannten Orten im Zentrum von Recklinghausen aufgestellt wird – zeigt in regelmäßigen Abständen eine Reihe von Codes an. Diese Codes sind an und für sich bedeutungslos, es sei denn, sie werden mit dem geheimen Codebuch entschlüsselt. Dieses Buch liegt in gedruckter Form vor und wird unkommentiert im öffentlichen Raum ausgelegt. Niemand weiß, wer die Geschichte dekodieren kann und wer nicht. Der Besitz des verborgenen Schlüssels und damit auch der privilegierten Information ist eingeschränkt, jedoch nicht durch ein rationales System. Der Zugang zu dieser Information ist nicht hierarchisch, aber auch keineswegs demokratisch.

Der Zusammenhalt einer Gruppe wird von der Kommunikationsfähigkeit ihrer Mitglieder und des Verständnisses untereinander bestimmt. Die Feinheiten der Kommunikationsweise dienen dazu, den Gruppenzusammenhalt zu stärken, indem sich die Gruppenmitglieder das geteilte und geheime Wissen untereinander bestätigen. Außenstehende sind zugleich stillschweigend ausgegrenzt, da sie unfähig sind, die Codes und Konventionen der Gruppe nachzuahmen, Rituale, welche den Besitz des geheimen Wissens voraussetzen.

Solche Codes können in Form von Dialekten, Jargon, Soziolekten, wie die ‚Bergmannssprache‘, die von Bergleuten im Ruhrgebiet (und auch an anderen Orten in Deutschland) gesprochen wird, auftreten. Sie können auch als visuelle Zeichen in Form von besonderem Kleidungsstil, als Körpersprache oder Verhaltensmuster deutlich werden. Das konkrete Medium ist irrelevant. Vielmehr geht es um die Besonderheit des übermittelten Signals und dessen symbolischer Bedeutung. Das Signal wird durch seine spezifische Ausprägung für die Gruppe, seine Eigenartigkeit und seine Unverständlichkeit gegenüber allen anderen definiert.

Somit kann man davon ausgehen, dass das Vorhandensein von geheimen Codes eine Voraussetzung für die Existenz einer multipolaren, heterogenen Gesellschaft ist. Verschiedenheit verlangt nach Undurchsichtigkeit. Oder andersherum: Absolute Transparenz erzeugt möglicherweise eine eintönige, homogene Masse.

Was bedeutet es, dass man den Zugang zu Wissen durch das Benutzen von geheimen Codes einschränkt? Können wir zugleich sowohl eine freie als auch vielfältige Gesellschaft sein? Ist es für den sozialen Zusammenhalt und die Harmonie zwischen den einzelnen Gruppen nötig, dass wir alles wissen, was dort geschieht? Oder hilft es manchmal nicht auch, etwas zu ignorieren, die Vorhänge zuzuziehen und die Schreie von unten aus der Wohnung auszublenden?

Wir wissen: Wissen ist Macht. Diese Macht wird dadurch ausgeübt, dass wir sie offenlegen und teilen, aber auch dadurch, dass der Zugang zu ihr versteckt und verneint wird. Wer den Code besitzt, die Schlüssel zum Garten der Aufklärung, ist klar im Vorteil. Andererseits sind diejenigen, die unwissend bleiben oder die ihre eigene Interpretation bevorzugen, frei von belastender Verantwortung und Gewohnheitsregel.



20. Juli 2014

ÜBERTRÄGER
ab 16 Uhr Grünanlage am Europaplatz 1, 45657 Recklinghausen



Geboren 1979. Studium an der Glasgow School of Art und am Dutch Art Institute (DAI). Seine Arbeit untersucht technische Forschung als künstlerisches Medium mit einem ausgeprägten narrativen Schwerpunkt. Seine 2013 erschienene Publikation Alpha, gala, omega agelada ist eine Erforschung von ‘Machen’ und ‘Denken’ im Allgemeinen und im Speziellen ein Versuch, Kühe aus Milch herzustellen. Das Buch wurde in die Bestände der V&A Library und der Moma Library aufgenommen. Meighan arbeitete jüngst in Deutschland, den USA, Südkorea, China, Libanon und der Türkei. Er lebt und arbeitet in Amsterdam. Dort arbeitet er an künstlerischen und autonomen technischen Forschungsprojekten.